11.09.2017
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Das läuft falsch im Wohnungsmarkt

Die Zinsen liegen historisch tief – und doch steigen die Mietpreise ständig. Es findet eine gigantische Umverteilung statt.

Der Referenzzinssatz ist am 1. Juni auf 1.5 Prozent gesunken. Der Durchschnitt aller Hypothekarzinsen in der Schweiz liegt gerade noch bei gut 1.6 Prozent. Damit sind die Zinsen seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 um mehr als die Hälfte gesunken. Was nach einem theoretischen Wert für Banken und Hypothekarnehmer klingt, hat grösste Auswirkungen auf die
Einkommen und Ausgaben der Menschen in der Schweiz.

Gegenüber 2008 müssen heute für Hypotheken rund 16 Milliarden Franken weniger bezahlt werden. Diese 16 Milliarden Franken stehen für Konsum, Investitionen oder zum Sparen bereit – sie müssen nicht mehr den Banken oder anderen Kreditgebern bezahlt werden. Sinkt der Referenzzinssatz um ein Viertel Prozent, so sollte die Miete gemäss Mietrecht um knapp drei Prozent sinken.

Heute werden gesamthaft rund 35 Milliarden Franken für die Nettomieten ausgegeben. Jede Referenzzinssatz-Senkung sollte also zu einer Mietzinseinsparung von rund einer Milliarde Franken führen. Am 1. Juni ist der Referenzzinssatz zum achten Mal gesunken. Die bisherigen Senkungen des Referenzzinssatzes hätten die Mietzinse um rund sieben Milliarden Franken senken müssen. Doch passiert ist das Gegenteil: Die Mietzinsen steigen weiter an.

Trotz allen Prophezeiungen zur Entspannung des Wohnungsmarkts und Anzeichen von tieferen Mieten zeigt der Mietzinsindex weiter nach oben. Er steigt nicht mehr so rasant an, aber er bewegt sich entgegen den mietrechtlichen Vorgaben komplett in die falsche Richtung. Die Teuerung ist seit neun Jahren nicht mehr gestiegen, die Zinsen massivst gesunken, doch nur ein kleiner Teil der Mietenden hat Mietzinssenkungen erhalten. Und in der Statistik werden diese Abschläge von hohen Aufschlägen bei Wiedervermietungen und Sanierungen von Wohnungen mehr als weggefressen. Unter dem Strich zahlen die Mietenden jedes Jahr mehr fürs Wohnen. Seit 2008 ist der Mietzinsindex nochmals um mehr als 10 Prozent
angestiegen.

Auch die Raiffeisenbank findet, dass das Mietrecht lax gehandhabt wird

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Quelle: BFS, BWO, SMV

Was die einen zu viel bezahlen, erhalten andere als Extra-Rendite. Auf den meisten Kapitalanlagen sind die Renditen sehr niedrig, Kleinsparer erhalten schon längst nichts mehr für ihr Geld. Doch im Immobilienmarkt werden immer noch hohe Renditen erzielt. Das zeigt etwa die Jahresrechnung 2016 der Immobilienfirma Mobimo. Die Rendite betrug sagenhafte 11,7 Prozent. Berechnungen zur Immobilienbranche wie jene des Immobilienbüros IAZI zeigen ein ähnliches Bild: Jährlich können mit Mietliegenschaften rund drei Prozent Rendite erzielt werden, und gleichzeitig erhöht sich der Wert der Liegenschaften um drei Prozent. Mit durchschnittlichen Renditen von sieben Prozent steht der Mietwohnungsmarkt einzigartig da. Kein Wunder, drängt immer mehr Geld in diesen Markt und verdrängt dort mit horrenden Kaufpreisen die nicht renditeorientierten Wohnbauträger wie Genossenschaften und andere gemeinnützige Anbieter. Aber unter dieser Entwicklung leiden auch alle, die Wohneigentum kaufen wollen. Man kann es nicht anders als eine gigantische Umverteilung nennen. Eine Umverteilung von den Besitzlosen zu den Eigentümern. Jahr für Jahr zahlen die Mietenden Milliarden zu viel an Miete, und die Vermieter kassieren Milliarden zu viel an Miete. Auch die Raiffeisenbank hat das Phänomen der nicht weitergegebenen Referenzzinssatz-Senkungen untersucht. In einer längeren Berechnungsperiode seit den 80er Jahren hat sie festgehalten, dass die Mieten nach korrekter Anwendung des geltenden Rechts um 40
Prozent tiefer liegen sollten. Als Grund für diese paradoxe Entwicklung nannte die Raiffeisenbank unter anderem das «lax gehandhabte Mietrecht». Sie bezeichnet die Schere zur tatsächlichen Mietpreisentwicklung als «fast schon beängstigend». Beängstigend ist diese Entwicklung auch, weil es beim Wohnen um den grössten Teilmarkt in der Schweiz geht. Rund ein Viertel unseres Einkommens geben wir für Wohnen und Energie aus. Für nichts anderes geben die Menschen so viel Geld aus wie fürs Wohnen. Und es geht hier um einen Zwangsmarkt: Alle müssen wohnen können und ein Dach über dem Kopf haben. Deshalb braucht es in der Wohnpolitik soziale Leitplanken und einen griffigen Schutz der Mietenden. Heute ist dieser nötiger denn je.