«Ich finde das noch immer gleich unerträglich»
Anita Thanei, die langjährige MV-Präsidentin, blickt anlässlich ihres Rücktritts auf die 25 Jahre ihres Engagements zurück. Sie stellte sich den Fragen von M&W.
- Zoom
- Anita Thanei
- Anita Thanei.
M&W: Anita Thanei, erinnern Sie sich noch, wie Sie seinerzeit in die Mieterbewegung eingestiegen sind?
Anita Thanei: Ja, es war im Jahr 1988. Damals wurde ich zur Leiterin der Rechtsabteilung des MV Zürich gewählt. Ich übernahm das Mandat als Anwältin und arbeitete in einem Büro an der Tellstrasse.
Wie sind Sie überhaupt aufs Mietrecht gekommen?
Im selben Jahr machte ich die Anwaltsprüfung. Ich wusste bereits, dass ich mich als Anwältin immer für die schwächere Seite einsetzen wollte. Das tönt zwar etwas sozialromantisch, aber es stimmt. Viele Probleme der Bevölkerung liegen ja im Arbeits- und im Mietverhältnis. Die meisten Menschen leben in diesem Bereich in einer doppelten Abhängigkeit. Zudem sind wir alle existenziell auf eine Wohnmöglichkeit angewiesen.
Und dann sind Sie in den Verband hineingewachsen?
Nach dem Bewerbungsgespräch klappte es auf Anhieb. Ich wurde gewählt, obwohl ich noch die mündliche Anwaltsprüfung ablegen musste. MV-Präsident war damals Alex Weber. So fing ich mit den ersten Mietfällen vor der Schlichtungsstelle und dem Mietgericht an. Auch nahm ich an den Vorstandssitzungen des MV Zürich teil. In den schweizerischen Vorstand bin ich im Jahr 1990 eingetreten. Dannzumal war ich bereits selbständige Rechtsanwältin in der Kanzlei von Moritz Leuenberger . Als dieser in den Zürcher Regierungsrat gewählt wurde, wurde ich zusammen mit Paul Rechsteiner ins Co-Präsidium des Dachverbands gewählt. Im gleichen Jahr begann meine politische Karriere im Zürcher Gemeinderat. 1995 wurde ich in den Nationalrat gewählt. Ich kandidierte gleichzeitig auch für den Ständerat.
Somit sind Sie sind seit rund einem Vierteljahrhundert für die Mieterbewegung aktiv.
Genau gesagt sind es 26 Jahre, eine lange Zeit. Die meisten, mit denen ich zusammenarbeitete, waren weniger lang als ich im Verband präsent. Es gibt nur wenige Ausnahmen. Im Jahr 2004 wurde ich Präsidentin des Deutschschweizer MV und auch des Dachverbands.
Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?
Es war immer spannend und toll. Ich fühlte mich am richtigen Ort, auch heute noch. Der MV ist der einzige Verband, hinter dessen Zielen ich voll stehe, obwohl man ja im Leben seine Meinung ändern kann. Ich finde es immer noch gleich unerträglich, wenn zum Beispiel einer 88jährigen Frau oder einer Familie aus nichtssagenden Gründen die Wohnung gekündigt wird.
- Zoom
- Anita Thanei (M.) umgeben von ihren Vorstands-KollegInnen im Jahre 2003.
Allzu viel hat sich an der Rechtsstellung der Mietenden nicht geändert. Sehen Sie das auch so?
Die Rechtslage hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verbessert. Wir müssen es jedoch schon als Erfolg verbuchen, dass sie sich nicht verschlechtert hat. Die Situation im Parlament ist leider sehr eigentümerfreundlich. Die Abwehr der Markmiete war sicher einer unserer ganz grossen Erfolge. Wir dürfen es nicht zulassen, dass das Prinzip der Kostenmiete aufgeweicht wird.
Wo konnten Sie sich sonst noch durchsetzen?
Die Vereinheitlichung der Zivilprozessordnung (ZPO) war gesamthaft gesehen zumindest ein Teilerfolg. Es waren ja zuerst wesentliche Verschlechterungen geplant. Wir konnten in der parlamentarischen Debatte Schlimmeres verhindern. Man muss aber einräumen, dass das mietrechtliche Verfahren vor der Reform mieterfreundlicher war als jetzt.
Eine zwiespältige Bilanz. Wie gehen Sie damit um? Ist das Ausbleiben substanzieller Fortschritte nicht schwer zu ertragen?
Schwer verständlich ist vor allem, dass unsere Volksinitiativen auf der eidgenössischen Ebene nicht durchkamen, obwohl ja die Mehrheit in der Schweiz Mietende sind. Mehr Chancen hatten wir mit Referenden sowie mit Vorstössen auf kantonaler Ebene, wie etwa mit der Wiedereinführung der Formularpflicht für den Anfangsmietzins im Kanton Zürich. Es wäre toll, wenn diese wie geplant landesweit festgelegt würde.
Das ist ein wirksames Mittel gegen die Mietzinsexplosion. Wir haben jetzt wesentlich mehr erfolgreiche Anfechtungen von überrissenen Anfangsmietzinsen. Diese Erfolge sind ein sehr wichtiges Signal an die Mietenden, dass sie sich gegen happige Mietzinserhöhungen bei Mieterwechseln wehren können. Sie sollten sich zudem vermehrt gegen Mietzinserhöhungen nach Renovationen wehren. Mietzinsaufschläge nach Mieterwechseln und Renovationen sind heute die Einfallstore für die Marktmiete.
Und im Parlament? Waren die mieterpolitischen Vorstösse letztlich nicht bloss ein Nullsummenspiel?
Ich habe etliche Vorstösse im Miet- und im Arbeitsrecht lanciert. Es ging um Verbesserungen beim Kündigungsschutz, bei den Nebenkosten sowie bei der Mietzinsgestaltung. Doch wir erzielten keine Mehrheiten. Stets lautete die Frage, wie viele Stimmen von der CVP werden wir erhalten. Und es gilt: Steter Tropfen höhlt den Stein. Auch wenn meine Vorstösse keine Mehrheit im Parlament fanden, wurden gewisse Forderungen auf anderem Wege aufgenommen und erfüllt. Ich denke an Verordnungsänderungen des Bundesrats oder an die bundesgerichtliche Rechtsprechung. Überdies konnten dadurch Verschlechterungen abgeblockt werden.
Ist Ihnen ein besonderer legislatorischer Erfolg in Erinnerung geblieben?
Das war die Anhebung der Streitwertgrenze für das kostenlose Verfahren im Arbeitsrecht von 20'000 auf 30'000 Franken. Dies gelang nach etlichen Versuchen und ist heute in der ZPO verankert. Die Parlamentarische Initiative dazu stammte von mir. Es ist sozusagen die «Lex Thanei».
Wenn Sie eine Gesamtbilanz für die Mieterseite ziehen, wie fällt sie aus?
Wir mussten immer schon kämpfen und müssen es auch heute noch. Sicherlich gibt es auch Verbesserungen in den Bereichen Wohnbauförderung und Raumplanung. Die Anzeichen für Reformen sind dort nicht schlecht. Was wir erreicht haben, sind im Wesentlichen Verordnungsänderungen. So müssen die Vermieter beispielsweise öffentliche Fördergelder nach einer Sanierung von den auf die Mietzinse überwälzbaren Investitionskosten abziehen.
Hätte man auf anderen Wegen, ausserhalb des Parlaments, nicht mehr erreichen können?
Die Alternative sind Volksinitiativen. Diese brachten uns aber auch keine Mehrheiten. Wenn man mit einer Initiative zu viel verlangt, bietet man auch viele Angriffspunkte. Das war etwa bei «Ja zu fairen Mieten» der Fall. Die Chancen steigen, wenn der Vorstoss auf ein bestimmtes Thema fokussiert ist , zum Beispiel auf den Kündigungsschutz. Dennoch finde ich, dass man gewisse Punkte weiterverfolgen muss. Rechtssuchende werden heute durch hohe Gerichtskosten abgeschreckt. Eigentlich ist das ja verfassungswidrig. Es soll für alle einen gleichen Zugang zum Recht geben. Der Mittelstand ist hier der Geprellte. Nur die «Reichen» und «Armen» mit unentgeltlicher Prozesshilfe können sich ein Verfahren vor Gericht leisten. Die übrigen eigentlich nur, wenn sie eine Rechtsschutzversicherung haben oder Mitglied beim MV sind.
Wir haben einen traditionell schlechten Mieterschutz, und jetzt kommen noch prozessualen Hürden dazu ...
Die ZPO ist dafür ein gutes Beispiel. Bei der Reform galt die Prämisse, dass die Justiz für die Kantone nicht teurer werden darf. So wurde schweizweit die Möglichkeit der Vorschusspflicht für Gerichtskosten eingeführt. Im Kanton Zürich ist das eine Verschlechterung für die Rechtssuchenden. Bei den Beratungen im Parlament stellte ich etwa zehn Minderheitsanträge zu den Gerichtskosten. Alle wurden abgelehnt. Die meisten Gerichte fordern nun solche Vorschüsse. Will sich beispielsweise eine Familie mit dem Vorschlag der Schlichtungsbehörde nicht zufrieden geben und eine Kündigung vor Gericht anfechten, muss sie allenfalls einen Vorschuss von bis zu 5'000 Franken bezahlen. Da überlegt man es sich zweimal, ob man so viel Geld auf den Tisch legt. Das stört mich sehr.
Aber die Verfahren vor der Schlichtungsbehörde sind immer noch kostenlos für alle.
Schon, aber die Gerichtskosten sind auch ein probates Druckmittel für Schlichtungsbehörden, um zu einem Vergleich zu kommen. Die Angst vor drohenden Prozesskosten bei einem Weiterzug ans Gericht führt oft zum Abschluss von für die Mietenden nachteiligen Vergleichen. Das empört mich auch.
Die Schlichtungsbehörden geraten in letzter Zeit zunehmend in Kritik. Wie sehen Sie die Lage?
Ich habe ehrlich gesagt von den Schlichtungsbehörden mehr Verständnis für die Anfechtung von Anfangsmietzinsen erwartet. Es gibt bei Mieterwechsel teilweise krasse und unverschämte Mietzinserhöhungen, etwa von 1’400 auf 2’200 oder 2'400 Franken pro Monat. Gewisse Schlichtungsbehörden sind auch bei solchen Fällen unterschwellig der Ansicht, die Mietenden hätten solche Verträge eben nicht unterschreiben sollen. Das kann ich nicht nachvollziehen, und ebenso wenig, wenn Schlichtungsstellen für Mietende unvorteilhafte Vergleiche unterbreiten, nur um den Fall vom Tisch zu haben. Generell herrscht bei einigen, nicht allen, Schlichtungsstellen und Gerichten ein vermieterfreundliches Klima vor. Das stört mich natürlich sehr, insbesondere wenn die Mietenden nicht vertreten sind.
Sie ziehen sich nun aus allen Ämtern im MV zurück. Wie sieht Ihre Zukunft aus?
Ich habe verschiedene Veröffentlichungen geplant. Einerseits arbeite ich an der Neuausgabe unseres Mietrechtsbuchs mit, anderseits verfolge ich ein Projekt zum Zivilprozessrecht.
Sodann werde ich weiterhin Mietende und Arbeitnehmende als Anwältin vertreten, und ich mache das sehr gern. Auf dem prozessualen Weg sind auch ohne Gesetzesänderungen Verbesserungen möglich, etwa bei den Nebenkosten. Hier geht es mir vor allem um die unerträgliche Lockvogelpolitik mit zu tief angesetzten Akontobeträgen für die Nebenkosten. So mietet eine Mieterin beispielsweise eine Wohnung für eine monatliche Miete von total 1'650 Franken. Das Erwachen kommt dann mit der ersten Nebenkostenabrechnung. Zum Teil werden Nachforderungen von über 2'000 Franken gefordert. Das darf einfach nicht sein, es ist ein schwerer Verstoss gegen Treu und Glauben. Die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung dazu ist leider nicht sehr mieterfreundlich. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass unser hartnäckiger Kampf in diesem Bereich schlussendlich erfolgreich sein wird.
Unsere Sektionen: Ihre Ansprechpartner für Dienstleistungen & Mitgliedschaft
Als Mitglied des Mieterinnen- und Mieterverbands (MV) profitieren Sie von zahlreichen Vergünstigungen auf die Dienstleistungen unserer Sektionen, wie Mietrechtsberatung, Hilfe bei der Wohnungsabgabe und vielem mehr.
Bitte wählen Sie dazu Ihren Kanton:

- Aargau
- Appenzell-AR / AI
- Baselland
- Basel-Stadt
- Bern
- Freiburg
- Glarus
- Graubünden
- Luzern
- Nidwalden/Obwalden
- Uri
- St. Gallen
- Schaffhausen
- Schwyz
- Solothurn
- Thurgau
- Zug
- Zürich
- Tessin (ASI)
- Westschweiz (Asloca)
-
Freiburg franz. Teil
MV Deutschfreiburg oder Asloca Fribourg (französisch) öffnen?