Wohnungsnot? Systemkrise!

Illustration: Patric Sandri

Seit Wochen reden Vertreter des Immobilienkapitals unwidersprochen von «Wohnungsnot». Dabei haben wir es nicht etwa mit einem Notfall zu tun, sondern mit einer chronischen Systemkrise. 

Tag für Tag jammern Medien über die sogenannte Wohnungsnot. Sie beklagen die sinkende Leerwohnungsziffer und die wegen steigender Zinsen bald steigenden Mieten. Sie zitieren Experten – allesamt Vertreter des Immobilienkapitals –, die dann unwidersprochen behaupten können, man müsse eben mehr bauen, die Baugesetze lockern, die Bau- und Zonenordnung zugunsten der Verdichtung aufweichen. Und Rechtspopulisten machen die Zuwanderung dafür verantwortlich. 

Ich kann es nicht mehr hören. Nur schon das Wort «Wohnungsnot» löst bei mir einen Empörungsanfall aus. Suggeriert es doch, man müsse nur mehr bauen, dann komme alles gut. Das impliziert nämlich, wir hätten eine «Marktmiete», und die Mietpreise seien eine Folge von Angebot und Nachfrage. Ganz so wie bei Turnschuhen. Wenn das Angebot die Nachfrage übersteige, würden die Mieten dann schon sinken. So wird bei Mieten unverfroren von «Marktpreisen» geschwätzt, bis sich in unseren Köpfen verfestigt, das sei tatsächlich so. 

«Marktmiete nur nach oben» 

Das ist sowohl unter rechtlichen als auch betriebswirtschaftlichen Aspekten – also im doppelten Sinn – purer Unfug und freundlich ausgedrückt eine Frechheit.

Rechtlich gesehen ist in unserem Mietrecht die «Marktmiete» – also eine Preisbildung nach Angebot und Nachfrage – explizit nicht erlaubt. Die Mieten haben sich vielmehr nach den effektiven Kosten zu richten, namentlich den Hypothekarzinsen (und der Teuerung). Dazu darf keine übersetzte Rendite mit der Mietsache gemacht werden. Die Rendite ist also gedeckelt; und zwar auf (neu) 2 % über dem hypothekarischen Referenzzinssatz. Wir haben also eine «Kostenmiete plus» in Verfassung und Gesetz, das Gegenteil von einer «Marktmiete». 

In der Realität sieht es freilich ganz anders aus, denn: Die Mietenden müssen eine übersetzte Mietrendite einklagen. Das machen sie aber nicht. Und so werden bei jedem Wohnungswechsel wacker die Mieten erhöht, in der Annahme, die Mietenden würden das schon schlucken. Auch eine Miet-zinsreduktion bei einer Senkung des Referenzzinssatzes müssen die Mietenden einfordern. Auch das machen sie aber selten, und längst nicht alle Vermietenden geben die Senkung automatisch weiter. 

So kommt es, dass die Mieten in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen sind, obwohl sie wegen rekordtiefer Zinsen und fast inexistenter Teuerung stark hätten sinken sollen (Grafik unten). Gegenüber dem gesetzlichen Pfad haben die Mietenden im Jahr 2021 sage und schreibe 10 500 Millionen Franken zu viel bezahlt. Das ist ein volkswirtschaftlicher GAU und der Kaufkraftkiller Nummer eins. 

Auch betriebswirtschaftlich sind die Behauptungen einer «Marktmiete» unhaltbar. Bei Immobilien befinden wir uns – insbesondere in den Ballungszentren – nämlich auf einem sogenannten «Anbietermarkt». Das heisst, der Anbieter – also die Vermieterschaft – setzt den Preis fest. Und zwar so, dass er die maximale Zahlungsfähigkeit abschöpft. Das kann er deshalb, weil es dort, wo sich die Arbeitsplätze befinden, immer mehr Wohnungssuchende als leerstehende Wohnungen hat. 

Wäre dem nicht so, hätten die Mieten seit 2009 nicht nur wegen der sinkenden Hypothekarzinsen (sie sind für die Mietpreise massgebend) sinken müssen, sondern auch wegen der regen Bautätigkeit und der folglich stark gestiegenen Leerstände (Grafik unten). Notabene: Die Bautätigkeit hat die zusätzliche Nachfrage nach Wohnraum durch die Zuwanderung deutlich übertroffen. 

Nach der Markt-Theorie von Angebot und Nachfrage hätten bei steigenden Leerwohnungszahlen die Mieten also nachlassen müssen. Haben sie aber nicht. Im Gegenteil. (So viel zu: «Man muss halt nur mehr bauen»). Eine einfache Rechnung erklärt, warum nicht: 

Nehmen wir an, eine 4-Zimmer- Wohnung in der Agglomeration kostet 3200 Franken und kann kaum vermietet werden. Bei einem Preisnachlass um 400 Franken pro Monat auf 2800 Franken Monatsmiete könnte sie leichter vermietet werden. Nehmen wir weiter an, eine Wohnung wird durchschnittlich 10 Jahre an die gleiche Familie vermietet. Ohne einen Preisnachlass nimmt der Vermieter über die 10 Jahre insgesamt 380 000 Franken ein. Mit dem Preisnachlass sind es 336 000 Franken, also 44 000 Franken weniger. Es lohnt sich also für den Vermieter finanziell, die Wohnung weit über ein Jahr leerstehen zu lassen, bis er jemanden findet, der den übersetzten Preis zahlt. Dazu hat er erst noch eine geringere Abnutzung der Wohnung. Genau das nennt man einen Preissetzer-Markt. Ein Markt, der nicht nach unten angepasst wird, sondern nur nach oben. Kunststück, handelt es sich doch beim Wohnen um eine essenzielle Güterklasse (wie Wasser und Luft). Er herrscht Zwangskonsum, denn man kann ja nicht nicht wohnen. 

Aus diesen Gründen konnte in der Schweiz schleichend eine «Marktmiete nur nach oben» eingeführt werden, ohne dass je ein Buchstabe des Gesetzes geändert worden wäre. Das ist für sich allein betrachtet ein demokratiepolitischer Skandal. Aus volkswirtschaftlicher Sicht wirkt so der Immobilienmarkt wie ein grosser Staubsauger, der den Menschen Einkommen wegsaugt, skandalös leis- tungsfrei. 

Sagt nie mehr «Wohnungsnot»! 

Wir haben es also mit einer chronischen Systemkrise zu tun, und nicht etwa mit einem Notfall. Jetzt, wo die Zinsen wieder steigen, jetzt, wo die Leerwohnungsziffern leicht sinken, jetzt, wo Teuerung und Energiekosten zunehmen, schreien alle: «Wohnungsnot!». Wären die Mieten in der Vergangenheit gesunken, wie sie es gesetzlich gemusst hätten, wäre das jetzt alles kein Problem. Das könnten die Mietenden locker wegstecken, hätten sie über die letzten fünfzehn Jahre nicht 78 Milliarden Franken zu viel bezahlt. So aber wird das volkswirtschaftliche Drama noch verstärkt. 

Was also tun? 

Es gibt zwei Eckpfeiler einer klugen Ordnung der Immobilienwirtschaft. 

Erstens die Eigentumsverhältnisse: Immobilien müssen denjenigen gehören, die sie nutzen und von ihnen abhängig sind. Das heisst, es braucht mehr Wohngenossenschaften. Viel, viel mehr. Und: Das globale anonyme Kapital in Form von börsenkotierten Immobiliengesellschaften muss wieder raus, was einer Rückgängigmachung der Aufweichung der Lex Koller gleichkommt. 

Zweitens muss das an sich kluge Mietrecht mit der Kostenmiete und dem Renditedeckel durchgesetzt werden. Dazu brauchen wir eine periodische Revisionspflicht der Mietrenditen – also einen Kontroll-Automatismus. 

Damit dies angesichts der Stärke der Immobilienlobby in Parlament und Medien politisch mehrheitsfähig wird, brauchen wir vermutlich zuerst einen Volksaufstand. Und Medien, die diesen riesigen demokratiepolitischen und volkswirtschaftlichen Skandal aufdecken, statt über Mehrwertsteuer-Befreiung von Benzin zu lamentieren, als ob steigende Benzinpreise der wahre Skandal wären. Dass die Mietenden insgesamt 10,5 Milliarden jährlich oder 370 Franken pro Monat und Wohnung (!) zu viel bezahlen, ist Grund genug dafür. Wir müssen auf die Strasse! 

Autorin: Jacqueline Badran