Seit 1988 wurde in der Stadt Zürich jedes sechste Haus abgerissen (rot markiert: Neubauten ab 1988). Karte: Enzmann Fischer Partner.
09.02.2023
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Zürich  | 
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Über Verdichtung reden

In den Städten entsteht mehr Wohnraum für die wachsende Bevölkerung. Dies aber oft durch Abriss und Neubau. Forschende arbeiten daran, dass mehr über Risiken und Nebenwirkungen gesprochen wird.

Text: Esther Banz

Der Architekt Philipp Fischer steht vor einem Schaufenster an der stark befahrenen Seebahnstrasse in Zürich. Hinter dem Glas tickt eine Digitalanzeige. Sie zeigt, wie viel Abfall aus Bauschutt in der Schweiz jede Sekunde neu produziert wird. Wenige Tage nachdem der Zähler gestartet wurde, sind es bereits 475 000 000 Kilogramm, jede Sekunde kommen 500 Kilogramm hinzu. Die Zahlen beruhen auf Berechnungen des Bundesamts für Umwelt, die szenische Installation ist von Countdown2030. Wie die Gruppe klimaengagierter Architekt*innen will auch Philipp Fischer Passant*innen auf die Ersatzneubau-Problematik hinweisen, sie wachrütteln. Er sagt: «Die Schweiz hat gute Hochschulen, eine intakte Demokratie, und eine Mehrheit nimmt den Klimawandel ernst. Gleichzeitig sind wir auch eine der führenden Konsum- und Wegwerfgesellschaften. Wir krempeln innert kürzester Zeit ganze Städte um, Zürich allen voran.» 

Er zeigt auf die Karte, die sich ebenfalls hinter dem Schaufenster befindet: «Darauf sind alle Gebäude markiert, die in dieser Stadt seit 2011 abgebrochen wurden.» Die Karte zeigt beinahe flächendeckende Hervorhebungen. Seit 1988 sei sogar jedes sechste Haus in der Stadt abgerissen worden, sagt Fischer (siehe Karte unten). Sein Büro aktualisiert laufend eine weitere Karte der Stadt – alle Neubauten. Warum 1988? Damals hielt Ursula Koch ihre legendäre Rede. Sie sagte: «Die Stadt ist gebaut. Sie muss nicht neu-, sondern umgebaut werden. Umgebaut zu einem lebenswerten Zürich, mit hohen urbanen Qualitäten.» Vor über 30 Jahren sprach sie also vom Weiterbauen respektive Verdichten, noch bevor dieses zum Ziel erhoben wurde. Die Zahl – jedes sechste Haus – beruht auf Berechnungen von Statistik Stadt Zürich. Er kenne keine Stadt in Europa, die verhältnismässig so viel Hausbestand vernichtet. Vielerorts entstünden im Zuge dieser Praxis seelenlose neue Quartiere mit Ersatzneubauten, während immer mehr bestehende Häuser mit Geschichte, Patina, Erinnerungswert, sozialen Strukturen und Funktionen verschwinden. 

Es ist dieser Wandel, den Philipp Fischer, der selber seit vielen Jahren erfolgreich baut, betrübt. Es sind die Klimafolgen der gängigen Abriss- und Neubaupraxis. Und nicht zuletzt auch, dass die Stadt menschlich monotoner und kühler zu werden droht, wenn im Zuge der Verdichtung und der energetischen Sanierungen immer mehr Wenig-, aber auch Normalverdienende gehen müssen. 

Seit 1988 wurde in der Stadt Zürich jedes sechste Haus abgerissen (rot markiert: Neubauten ab 1988). Karte: Enzmann Fischer Partner.
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Seit 1988 wurde in der Stadt Zürich jedes sechste Haus abgerissen (rot markiert: Neubauten ab 1988). Karte: Enzmann Fischer Partner.

Abriss/Neubau = höhere Mieten 

Dass seine Befürchtungen nicht unbegründet sind, bestätigt eine aktuelle, noch nicht publizierte Studie der ETH Zürich. Sie heisst «Mehr Wohnraum für alle?» und zeigt auf, wie sich im Kanton Zürich Bauaktivitäten und Mietpreise seit 1996 verändert haben. Eine Karte veranschaulicht, wie in der Stadt Zürich die Angebotsmietpreise seit 2015 fast überall angestiegen sind, teilweise massiv. Und das in einer Zeit, in der die Hypothekarzinsen konstant historisch tief waren. David Kaufmann ist einer der Autor*innen der Studie. Der Assistenzprofessor für Raumentwicklung und Stadtpolitik sitzt an einem nassen Novembertag in seinem Büro auf dem Campus Hönggerberg, eigentlich um von den Ergebnissen einer anderen kürzlich publizierten Studie zu erzählen. Diese wiederum thematisiert, warum die Verdichtung – unter Raumplaner*innen «Innenentwicklung» genannt – für Unbehagen in der Bevölkerung sorgt. Einer der Hauptfaktoren dafür ist, wenig überraschend, dass bei Abriss und Neubau die Mietpreise steigen. In alten Wohnungen leben oft alte Menschen und Menschen mit tiefen Einkommen, sie sind besonders von der Entwicklung betroffen. Selbst eine kleinere neue Wohnung im Quartier ist für viele unerschwinglich. Die Verdichtung bedeutet für sie Verdrängung. 

Es ist verflixt: Eigentlich ist praktisch niemand gegen die Ziele des 2013 revidierten Raumplanungsgesetzes. Es ist ein mächtiges (wenn auch nicht ausreichendes) Mittel gegen die Zersiedelung, das Verbauen von Boden ausserhalb der Siedlungen. Umfragen zeigen, dass eine grosse Mehrheit der Bevölkerung die Umsetzung überzeugt unterstützt, gerade in den Städten. Geschont werden dadurch auch wertvolle Lebensräume, die Artenvielfalt. Aber die dafür erforderliche Innenverdichtung sorgt in Städten, die kaum noch über Baulandreserven oder Brachen verfügen, nebst anderen Faktoren für regen Abriss und Neubau. Und das wiederum ist wegen der Unmengen an grauer Energie, die in Gebäuden steckt, Gift fürs Klima. Und eben auch für gewachsene soziale Strukturen, die eine Siedlung und ein Quartier ausmachen, denn bekanntlich werden bei Ersatzneubauprojekten von privaten respektive institutionellen Hausbesitzerschaften die Mietenden auf die Strasse gestellt. 

«Verdichtung oder Verdrängung?» 

Die Innenentwicklung schreitet voran, das Bundesamt für Raumentwicklung ARE zeigt sich mit der quantitativen Entwicklung zufrieden. Gleichzeitig verweist ARE-Sprecher Michael Furger darauf, dass das revidierte Raumplanungsgesetz auch qualitative Ziele beinhaltet, namentlich eine nachhaltige Siedlungsentwicklung. Er sagt: «Eine gute Innenentwicklung deckt gestalterische Fragen ab und sorgt dafür, dass sie bei der Bevölkerung auf die nötige Akzeptanz stösst.» 

Aber seit immer mehr Gebäude vor aller Augen brutal mit Baggern und Abrissbirnen traktiert werden und über Tage und manchmal Wochen hinweg an Kriegsruinen erinnern, passiert das Gegenteil: Das Unbehagen in der Bevölkerung nimmt zu. Auch das ETH-Wohnforum setzt sich mit dieser Problematik auseinander. Dessen Direktorin Jennifer Duyne Barenstein konnte beobachten, wie in ihrer Nachbarschaft in Zürich-Altstetten ein Haus nach dem andern plattgemacht wurde, «oft mit dubioser Legitimität und brutal», so schien ihr, «ich kenne mein Quartier fast nicht mehr». Sie wollte verstehen, was da passiert. Am 25. Januar eröffnet die Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung» im Zentrum für Architektur Zürich (ZAZ), von Studierenden des von ihr geleiteten Master of Advanced Studies (MAS). Anhand von vier Fallbeispielen gehen sie der Frage nach, wie legitim der jeweilige Ersatzneubau ist und was der Verlust der Wohnung für die betroffenen Mieter*innen bedeutet. Am 9. Februar organisiert das Wohnforum zudem eine Diskussion zu den sozialen Auswirkungen der anhaltend raschen Verdichtung der Stadt Zürich. 

Ausstellung 
Verdichtung oder Verdrängung? 
ZAZ Zürich, 26. Januar bis 26. März 2023
 
Aktuelle wissenschaftliche Publikationen
«Mehr Wohnraum für alle?», ETH Zürich, 2022 
«Perspektive Wohnungsverlust», Ifsar Institut für Soziale Arbeit und Räume, Ostschweizer Fachhochschule, 2022

Wie sicherstellen, dass alle profitieren? 

Gute Daten zu den Verdrängungsprozessen liegen noch keine vor, wie ETH-Assistenzprofessor David Kaufmann bedauert. «Forschungslücken» ist denn auch ein Wort, das im Gespräch mit Wissenschaftler*innen zum Thema Verdichtung und Verdrängung öfters fällt. So erstaunt es auch nicht, dass die Innenentwicklung insgesamt bisher die Menschen noch kaum im Fokus hatte, wie David Kaufmann sagt: «Es gibt ein planerisches Dilemma: Wenn wir in einen Raum intervenieren, wollen wir seine Qualität, seine Funktionsfähigkeit erhöhen – fürs Klima und den Verkehr etwa. Das macht den Raum attraktiver und bedeutet im gleichen Zug auch, dass diese Aufwertung die Preise in die Höhe treibt und eine Gentrifizierung stattfindet. Eine der zentralen Fragen, die uns raumplanerisch umtreibt, ist deshalb: Wie können wir sicherstellen, dass alle von diesem attraktiven Raum profitieren können und es nicht zu Verdrängung kommt?» Den oft gehörten Ruf nach «einfach mehr Wohnraum», wie ihn gerade auch Liberale erheben, sieht David Kaufmann kritisch: «Mehr Wohnraum ja, aber nur in Verbindung mit Regulationen und einer aktiven Bodenpolitik, damit verschiedenste Menschen in der Stadt bleiben können. Sonst kommt es zur Kettenreaktion: In die neuen, teuren Wohnungen ziehen Gutverdienende. Die mit den tiefen Einkommen verlieren derweil ihre günstigen Wohnungen in der Stadt und finden nur ausserhalb eine Bleibe. Aber das wollen wir nicht, denn das ist Segregation pur.» 

David Kaufmann wünscht sich, dass mehr über diese Entwicklungen gesprochen wird: «Innenentwicklung ist komplex, es muss viel verhandelt und ausgehandelt werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Diskussionen auch in der Öffentlichkeit vermehrt geführt werden.» Seine Studien und die Ausstellung des ETH-Wohnforums im ZAZ sollen dazu einen Beitrag leisten. Und natürlich auch der Ticker im Schaufenster an der Seebahnstrasse – keine Stunde nach dem Treffen mit Philipp Fischer sind in der Schweiz schon 1,8 zusätzliche Tonnen Abfall durch Abriss entstanden. Und weitere Menschen haben in der Zeit die Wohnungskündigung erhalten.