Die Schweiz wird abgerissen

Bild: Reto Schlatter

Tausende Häuser werden in der Schweiz jedes Jahr abgebrochen und ihre Substanz zum grössten Teil weggeworfen. Damit an Ort und Stelle von Grund auf neu gebaut werden kann. Gegen diese als selbstverständlich geltende Praxis regt sich Widerstand – gerade auch von Architekt*innen.

Kinder könnten stundenlang zuschauen, wenn riesige Bagger ganze Häuser auseinanderreissen, Erwachsene freilich auch. Und wer Zeit hat, kommt voll auf seine Kosten, denn abgerissen wird zurzeit vielerorts. Auch im Schweizerischen Architekturmuseum SAM in Basel konnte man kürzlich – im Sitzen sogar – zuschauen, wie gigantische Abbruchzangen an Hauswänden zerren und dabei Backsteine, Gips, Beton und Stahlstangen herausreissen und zu Boden krachen lassen. Dort liegt das zu Abfall gewordene einstige Mauerwerk dann, kreuz und quer übereinander Holzbretter und verbogene Stangen. Material, in dem viel wertvoller Rohstoff steckt – Sand, Erde, Holz oder Eisen, einst energieaufwändig abgebaut, zu Baumaterial verarbeitet, zur Baustelle transportiert und dort verbaut. In jedem Gebäude-«Abfall» stecken Unmengen an verbauter Energie – mehr als die Hälfte der gesamten Energie sogar, die ein neueres Haus im Laufe seiner Existenz im Betrieb insgesamt verbraucht, das Heizen eingerechnet.

Der reinste Wahnsinn

Wird ein bestehendes Haus abgerissen, landet mit dem nicht weiter- oder wiederverwerteten Bauschutt also jede Menge graue Energie quasi auf dem Müll – konkret: in Deponien (dass dabei auch teils über Jahrhunderte gewachsene Kultur und Identität einfach weggeworfen wird, wäre noch einmal ein anderes Thema). Und für einen Neubau wird bei der Rohstoffgewinnung, der Materialherstellung und dem Transport wieder neues Treibhausgas verursacht. Wo man doch auch mit dem Bestand oder wenigstens Teilen davon bauen könnte. Die Tabula-rasa-mässige Abriss- und Ersatzneubaupraxis ist der reinste Wahnsinn – und man mag es fast nicht glauben, aber: Ein Wendepunkt ist noch nicht in Sicht. Dabei hat die Schweiz ihr CO2-Budget unter Berücksichtigung ihrer historischen Emissionen bereits aufgebraucht, sagen die Macher*innen der Ausstellung «Die Schweiz: Ein Abriss». Sie gehören «Countdown 2030» an – einer Gruppe besorgter Architekt*innen und weiterer im Bauwesen Tätiger, die sich 2019 gebildet hat.

Mit einer Petition, dem partizipativ angelegten «Abriss-Atlas» und der Ausstellung wollen sie wachrütteln und aufzeigen, warum es einen Stopp der bisherigen Praxis braucht, wie ihn auch der Aktionsplan der Klimastreik-Bewegung mit seinem Moratorium für Neubauten verlangt. Es ist die Forderung nach einem Paradigmenwechsel, der die Lust am Neubau und deren Selbstverständlichkeit in Frage stellt – und das ausgerechnet von Architekt*innen? Ja. Aber von vorne.

Der Neubau: Eine Klimakatastrophe

Noch vor wenigen Jahren war die graue Energie, die in Gebäuden steckt, und überhaupt die eigene Klima-Verantwortung unter Bauherr*innen, Planer*innen und Architekt*innen ausser vereinzelt an Hoch- und Fachhochschulen kein grosses Thema. Fachzeitschriften wie insbesondere «Hochparterre» thematisierten zwar schon länger klimarelevante Fragen, und 2020 wurde den Pionier*innen im Wiederverwenden von Bauteilen, Barbara Buser und Eric Honegger vom «Baubüro in Situ», mit dem Meret-Oppenheim-Preis quasi der Grand Prix der Schweizer Architektur verliehen. Barbara Buser wurde ausserdem für eine Gastdozentur an die ETH berufen – aber diese und weitere ums Klima und die planetaren Grenzen Besorgten riefen mit wenig Widerhall in den Echoraum all derer, die die Schweiz bauen.

Einen Ruck löste erst die Klimabewegung aus. Weltweit und auch in der Schweiz bildeten sich «Architects for Future»-Gruppierungen. In Basel fanden Architekt*innen zudem zu «Countdown 2030» zusammen. Eine von ihnen ist Rahel Dürmüller. Für die Ausstellungs-Mitverantwortliche ist angesichts der Tatsache, dass die Baubranche für 40 Prozent des CO2-Ausstosses weltweit verantwortlich ist, klar: «Alles, was ich privat zur Verkleinerung meines Fussabdrucks tue, ist gut und recht, aber der viel grössere Hebel liegt in meiner Arbeit als Architektin.» Vor ein paar Jahren habe es eine intensive Diskussion zu Einweg-Plastiktüten gegeben, gleichzeitig würden in der Schweiz jeden Tag mehrere Häuser weggeworfen, ganz selbstverständlich.

Tausende abgebrochene Wohnungen

In der Schweiz werden pro Jahr zwischen 3000 und 4000 Gebäude abgerissen. Auch die Stadt Zürich rechnet: Dort wurden in den letzten zwanzig Jahren 13 695 Wohnungen abgebrochen, im Jahr 2021 mit 1768 so viele wie nie zuvor. Freilich sind Wohnungen in grösserer Zahl neu entstanden – aber diese Abrissfreude ist weder ökologisch noch sozial nachhaltig, denn in den meisten Fällen werden mit dem Bagger auch gewachsene nachbarschaftliche und kulturelle Strukturen zerstört. Und der Pro-Kopf- Flächenverbrauch ist bei neuen Wohnungen grösser. «Wenn es so weitergeht, müssen in den nächsten Jahren Zehntausende Menschen ihr Haus, ihr Quartier oder gar die Stadt verlassen», sagt Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich. Über vertriebene Menschen gibt es keine Zahlen, schon gar nicht schweizweite, aber was die weggeworfene Bausubstanz betrifft, weiss man: Diese Art der Erneuerung, die – obwohl auch ohrenbetäubend – schleichend und in ihren Dimensionen kaum fassbar vonstatten geht, beschert der Schweiz 84 % ihres gesamten Abfallvolumens.

Bauschutt: Ein jährlicher Zug bis Kapstadt

500 Kilogramm Bauschutt fallen hierzulande pro Sekunde an, sagt «Countdown 2030» in der Ausstellung, pro Jahr seien es 7,5 Millionen Tonnen. Sie stützen sich auch dabei auf Zahlen des BAFU. «Diese jährlich in der Schweiz anfallende Menge entspricht einem Güterzug von Zürich bis Kapstadt», sagt Rahel Dürmüller. Das Material gelangt in der Realität nicht nach Südafrika, sondern zu einem grossen Teil in Deponien. Dort gibt es aufgrund der hohen Bautätigkeit bereits Platznot. Eine in den Wald gebaute Deponie bei Liestal BL beispielsweise ist 32 Jahre früher als geplant bereits voll, wie der WWF Region Basel aufdeckte – allerdings auch weil man offenbar aus anderen Regionen Bauabfall importiert hat.

Nicht aller Bauschutt wird in Deponien entsorgt – ein Teil wird thermisch verwendet, beispielsweise zum Heizen, oder geht in die Wiederverwertung. Das klinge aber besser, als es sei, sagt Rahel Dürmüller: «Das meiste ist Downcycling, wird also minderwertig wiederverwendet. Aus Sicht des Materialkreislaufs ist dies sinnvoll, aus energetischer Sicht aber nicht immer. Denn die Aufbereitung kostet viel Energie; um Beton zu rezyklieren, braucht es sogar beinahe mehr Energie als für die Herstellung von neuem.» Unter dem Strich sei Recycling zwar besser als Wegwerfen, aber noch viel besser wäre es, die Strukturen zu erhalten.

Warum wird so viel abgerissen?

An einem Donnerstagabend im Oktober treffen sich in der Ausstellung in Basel gut zwei Dutzend Architekt*innen und andere im Bau und der Stadtentwicklung Tätige, um darüber zu diskutieren, warum überhaupt noch abgerissen wird. Moderatorin, Eingeladene und Publikum sitzen auf Augenhöhe im offenen Kreis, es entsteht eine rege Diskussion, bei der es darum geht, wer die Treiber der Abrisspraxis sind. Man ist sich einig, dass nebst anderem auch gesetzliche Fehlanreize – dazu gleich noch mehr – sowie das massenhaft vorhandene Geld den Abriss vorantreiben, denn für institutionelle Anleger wie Pensionskassen sind Immobilien, die sie neu erstellen, Renditevehikel: Mit teuren Wohnungen in Ersatzneubauten lässt sich mehr Geld abschöpfen als mit bestehenden Häusern und den Menschen, die schon seit Jahrzehnten darin leben. Ausserdem braucht es für neue Häuser viele neue Materialien.

Studierende fordern den Wandel

An der ETH Zürich gärt jetzt aber auf Seiten der Studierenden ein neues Bewusstsein, wie verschiedenem Leute beobachten. Auch Rahel Marti, Architektin und Redaktorin bei der Architekturzeitschrift «Hochparterre», weiss: «Heutige Studierende wollen ökologisch bauen lernen und fordern ein, dass die Professor*innen sie entsprechend unterrichten.» Augenöffnend ist die Masterarbeit dreier ETH-Studenten zum Abriss der riesigen Überbauung Wydäckerring in Zürich – sie thematisieren in ihrem Film, wie achtlos Gebäude abgerissen werden, wie eine Kultur des Erhalts wertvoller Substanz fehlt. 

Auch der Zürcher Architekt Philipp Fischer von Enzmann/Fischer beobachtet, wie sich die Haltungen und Interessen in der Architekturszene seit kurzer Zeit verändern, über die Hochschulen hinaus. Ohne zu verheimlichen, dass auch sie noch Beton-Altlasten haben, sagt er in der Diskussionsrunde: «Früher schien abreissen und neu bauen einfach normal. Aber jetzt hat sich, in unglaublich schnellem Tempo, ein neues Denken etabliert, auch in unserem Büro. Innert nur zweier Jahre.» Lacaton/Vassal aus Frankreich hätten viel dazu beigetragen. Das 2021 mit dem Pritzkerpreis geehrte französische Architekturteam sorgte mit der Transformation eines riesigen, zuvor nicht besonders ansehnlichen Sozialwohnungsbaus in Bordeaux für Aufsehen – und neulich in Zürich, auch weil sie beim Wettbewerb um die Erneuerung der Maaghallen (nur) auf dem zweiten Platz landeten. Lacaton/Vassal wollten das Industrieerbe, das inzwischen zu einem wichtigen Kulturort geworden ist, erhalten – aber die Jury platzierte sie auf Rang zwei, um ein Projekt gewinnen zu lassen, das den Abriss der Industriehallen vorsieht. 

Hätte man doch die Klimajugend gefragt 

Dass Projekte, die vom Bestehenden ausgehen, zwar gewürdigt werden, aber nur auf dem zweiten Platz landen, scheint zurzeit öfters vorzukommen, wie sich in der Diskussion zeigte. Auch Philipp Fischer machte diese Erfahrung kürzlich. Sein Büro hatte mit «Werkstadt» am Wettbewerb für das Schulhaus Höckler in Zürich-Leimbach teilgenommen. Man sah vor, mit dem alten Industriebestand zu arbeiten, ihn grösstenteils zu erhalten. Es siegte aber ein Abriss-/Neubauprojekt. In der Jury-Begründung des Amtes für Hochbauten der Stadt Zürich lautete der letzte Satz in der Würdigung des Projekts: «Aber würde man die Klimajugend fragen, so wäre ‹Werkstadt› wohl ihre neue Schule.» 

Offenbar braucht es eine gehörige Portion Zynismus, um sich angesichts der Klimakrise für Abbrüche zu entscheiden. Es scheint aber auch der einfachere Weg zu sein. Denn, so sagen die Fachleute: Beim Bauen im Bestand und überhaupt beim Weiter-und Wiederverwenden von Materialien sieht man sich mit allerlei Unvorhersehbarem konfrontiert. Es braucht Improvisationswille und ist bei grösseren Eingriffen kostenintensiv. Ausserdem hat man hierzulande – anders als etwa in Holland – erst wenig Erfahrung damit. 

Bergacker: Eine andere Zukunft ist möglich 
32 Mehrfamilienhäuser mit 408 Wohnungen sollen im Bergacker in Zürich-Affoltern abgerissen, die Siedlung komplett neu gebaut werden (siehe M+W 6/21). 900 Mieterinnen und Mieter von günstigen Wohnungen sind vom Erneuerungsprojekt der Stiftung Habitat 8000 und Swiss Life betroffen. 
Geht es sozial und ökologisch nicht nachhaltiger? Das wollten das Baubüro InSitu, Urban Equipe und der MV Zürich wissen. Sie haben zusammen mit Studierenden der ETH Zürich eine Studie erarbeitet, welche die Siedlung sozial, ökologisch, ökonomisch und städtebaulich untersucht. Jetzt liegt das Resultat vor: Ja, es geht deutlich besser, eine Erneuerung im Bestand ist möglich – und sie wäre viel ökologischer. Denn auf die gesamte Lebensdauer der Gebäude berechnet, würde ein Neubau, wie er jetzt vorgesehen ist, doppelt so viel CO2 verursachen wie eine kluge Sanierungs-und Erweiterungsbau-Lösung. «Eine andere Zukunft im Bergacker ist möglich – indem mit dem Bestand gebaut wird», sagt Walter Angst vom MV Zürich. Sie wäre zudem sozial nachhaltiger als eine Leerkündigung. 

Weitere Informationen zur Studie: www.beispiel-bergacker.ch 

Politik und Architekt*innen sind gefordert 

Und dann sind da noch die gesetzlich installierten Fehlanreize. Etwa dass seit 1. Januar 2020 bei Ersatzneubauten Rückbaukosten bei den direkten Bundessteuern abgezogen werden können. Solches will «Countdown 2030» mit der Petition beseitigen. Die Aktivist*innen, die auch Bauprofis sind, fordern ferner, dass die Entsorgungskosten verteuert werden, es für Abriss eine Bewilligungspflicht gibt und Gemeinden, Kantone und der Bund bei ihren eigenen Bauten mit gutem Beispiel vorangehen. Sie wollen Tempo sehen, denn noch planen die meisten im Bau ohne jegliches Klimabewusstsein, wie auch Rahel Marti von «Hochparterre» wahrnimmt: «Es gibt jede Menge Büros, bei denen die Dringlichkeit noch nicht angekommen ist. Die erwischt man nur mit politischen Vorgaben und Sanktionen. Auch ein CO2-Budget pro Kopf wäre sicher wir-kungsvoll.» 

In Zürich beschloss der Gemeinderat dieses Jahr, dass die Stadt als Bauherrin nicht mehr einfach abreissen und neu bauen darf, sie muss sich zuerst über Energiebilanzen beugen. Ziel ist unter anderem, dass vermehrt im Bestand erneuert wird. In Basel-Stadt ist man diesbezüglich ebenfalls auf gutem Weg. Im Kanton Bern verlangt eine Motion, dass Sanierungen anstelle von Ersatzneubauten gezielt gefördert werden. Auch auf Bundesebene bewegt sich – langsam – etwas. Die parlamentarische Initiative «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» verlangt, dass mit einer Gesetzesgrundlage die Umweltbelastung durch die Verwendung kreislauffähiger Materialien und durch die Vermeidung von Abfällen massgeblich reduziert wird, explizit auch im Bau. Die zuständige Kommission hat zwei weitere Jahre Zeit für die Aus-arbeitung. 

An jenem Oktoberabend im Schweizerischen Architekturmuseum sind sich auch die Anwesenden einig: Die Politik muss dringend ran! Und auch die eigene Gilde. Während im Nebenraum die Bagger auf der Leinwand unermüdlich Mauerteile zum Einsturz bringen, erinnert der ebenfalls an der Diskussion teilnehmende Walter Angst vom MV Zürich daran, wie wichtig es ist, früh zu erkennen, wenn der Abriss eines Hauses geplant ist. Er appelliert deshalb an die Architekt*innen, die jeweils zu den Ersten gehören, die über Abrissprojekte informiert sind: «Teilt euer Wissen!» 

Autorin: Esther Banz